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Hans Dieter Zimmermann hat ein interessantes Büchlein über Stefan George verfasst, aus dem wir hier mit seiner freundlichen Genehmigung einen Ausschnitt veröffentlichen dürfen:
Stefan George: Der Freund der Fluren
Lange war er mir fremd, obwohl er mir doch wiederum so nahe stand, denn ich besuchte das nach ihm benannte Gymnasium in Bingen am Rhein: der Dichter Stefan George, 1874 im Binger Vorort Büdesheim geboren, in Bingen aufgewachsen, wo sein Vater Weinhändler war und wohin er immer wieder gerne zurückkehrte, zuletzt 1933 im Jahr seines Todes. Er schien mir so herrisch, seine Gedichte so kalt und künstlich, bis ich seine Übersetzungen von „Die Blumen des Bösen" des großen Charles Baudelaire las. Stefan George, halb Franzose, halb Deutscher, Schüler von Mallarmé in Paris, hat sie so vorzüglich ins Deutsche übertragen, dass sie als eigenständige Gedichte bestehen können und das sollen sie auch, sind sie doch für Leser gedacht, die des Französischen nicht mächtig sind. Und dennoch sind seine Übersetzungen nicht eigenwillig, wie ich erwartet hatte, sondern von einer Demut, die mich verblüffte. Er setzte sich nicht über Baudelaire hinweg, sondern stellte sich in seinen Dienst. Wer weiß, was Herr sein heißt, auch Herr seiner selbst, der weiß auch, was Diener sein heißt, auch Diener seines Selbst.
Möglichst getreu versuchte er die Wunderwerke zu übersetzen. Und dann lernte ich ihn kennen - als einen der kunstfertigsten und hellsichtigsten Poeten des 20. Jahrhunderts. Und als einen Dichter der kulturgesättigten rheinischen Landschaft.
Auch heute noch kann man dieses Bild sehen, in den Obstgärten zwischen Bingen und Ingelheim, sind sie auch von einer Schnellstrasse durchschnitten, und in den Weinbergen des rheinhessischen Hügellands: die ihre Pflanzungen pflegenden Gärtner und Winzer. Das Gedicht zeigt in drei Strophen drei verschiedene Landwirte: zunächst den Bauern, der die Jähren", die Furchen, des Ackers entlanggeht, mit der „hippe", der Sichel, in der Hand und die Getreideähren prüft. Dann der Winzer, der im Weinberg die Rebstöcke an die Pfähle bindet und die jungen, noch harten Trauben betastet, die „herlinge", die noch reifen müssen. Schließlich der Obstgärtner, der die jungen Bäume stützt und schützt, damit sie ihm Früchte bringen. Die vierte Strophe führt zusammen: Die Pflanzen sind zu gießen, Unkraut muss ausgeharkt werden. Dann blühen schließlich unter dem „stapfe", dem Schritt des Freundes der Fluren die Pflanzen, und die Früchte reifen.
Im Freund der Fluren sind all die vereint, die sich pfleglich um die Landschaft und um die Landwirtschaft bemühen. Der Freund der Fluren wird zu einer fast mythologischen Gestalt, zu einem Gott der Fruchtbarkeit, zum guten Geist der Landschaft. Und er wird zum Vorbild des Menschen, der sorgfältig mit der Landschaft umgeht, der ihr dient, damit sie ihm diene. Der also nicht die Natur sich selbst überlässt, dann würde sie verwildern, der sie aber auch nicht unterwirft, dann würde sie verkümmern. Er kultiviert sie. Hier hat das Wort Kultur seinen lateinischen Ursprung; es meinte zunächst die Arbeit des Bauern auf dem Felde. Und auf dieser Arbeit baut alle Kultur im weiteren Sinne auf. In der schlichten Schönheit des Gedichts erscheint die zwischen Mensch und Natur mögliche Harmonie, nicht Einheit.
Der Mensch steht der Natur gegenüber, mag er auch Teil der Natur sein. Ihn zeichnet vor allen Lebewesen das Bewusstsein aus, er ist sich seiner Selbst bewusst oder sollte es doch sein. Und damit ist er sich auch seiner Stellung innerhalb der Natur bewusst. Die Harmonie ist immer ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, immer aber muss es erstrebt werden als zartes Gleichgewicht zwischen Eingreifen und Freilassen. Es muss erarbeitet werden, damit es von Nutzen ist.
Sicher sieht das Gedicht dieses Gleichgewicht nicht nur als erstrebenswert im Verhältnis von Mensch und Natur, sondern auch im Verhältnis von Mensch zu Mensch. Der Freund der Fluren kann auch als Lehrer, als Meister betrachtet werden, der die Schüler pflegt, die deutsche Übersetzung des Wortes kultivieren, der sie erzieht, liebevoll und bestimmt zugleich, damit sie gut gedeihen und das, was in ihnen ist, entfalten als ihr Eigenes. So war Stefan George ja auch ein Pädagoge, der viele vorzügliche Schüler hatte, etwa den Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf, den Historiker Ernst Kantorowicz und den Offizier Graf Stauffenberg, der das Attentat auf Hitler wagte.
Und das Gleichgewicht in uns Selbst ist ebenfalls in diesem Gedicht genannt, so scheint es mir: dass ich nicht verwildere, allen meinen wuchernden kleinen und großen Begehrlichkeiten jederzeit nachgebe, sondern die fruchtbaren Neigungen entfalte, das Unkraut aber ausrupfe. So kann ich mich selbst kultivieren, also nicht mir Zwang antun, das wäre so, als würde ich im Garten mit dem Unkraut auch die Blumen ausreißen, aber auch nicht alles wild wuchern lassen, dann wüchse schließlich nur noch Unkraut im Garten, sondern: der goldene Mittelweg.
Stefan Georges Gedicht „Der Freund der Fluren" steht im Band „Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel", als Privatdruck 1899 erschienen, 1901 in einer kleinen öffentlichen Ausgabe Melchior Lechter gewidmet, dem Freund, der die kostbaren Bände ausstattete. Stefan George zielte nicht auf den Erfolg bei der breiten Menge; vieles würden viele eh nicht verstehen, wozu sich nach ihnen richten. Man mag das elitär nennen, aber gibt es nicht tatsächlich Probleme, die nur wenige begreifen, weil sie die nötigen Voraussetzungen mitbringen, z.B. solche der Mathematik, die nur einem kleinen Kreis von Kennern geläufig sind? Ich erinnere mich an ein Gespräch nach einem Essen bei Freunden mit einem Physiker, den ich höflich fragte: Und woran forschen Sie jetzt? Und der antwortete: Ach, wissen Sie, es ist zu kompliziert, Sie würden es eh nicht verstehen. Reden wir über Kafka.
Der Gedichtband „Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel" umfasst, wie der Titel sagt, drei Teile: ein Vorspiel, den Teppich des Lebens, darin unser Gedicht, und die Lieder von Traum und Tod; jeder Teil enthält 24 Gedichte. Von den frühen stilisierten Landschaften, den künstlichen Paradiesen hat sich der Dichter nun den „einfachen gefilden" zugewandt:
Auch hier also der Ausgleich, doch eine Idylle ist das „einfache Leben" nicht. Vor „Der Freund der Fluren" steht das Gedicht „Urlandschaft", das die Landschaft zeichnet, die noch nicht vom Menschen bearbeitet wurde. In der letzten Strophe erscheinen „Erzvater" und „Erzmutter", aus der Urlandschaft wird die Kulturlandschaft. „Erzvater" und „Erzmutter" deuten auf den „Freund der Fluren" hin, der ein fruchtbares Land gestaltet. Doch es bleibt ein Rest rätselhaft. Das Gedicht, das folgt, heißt nämlich „Das Gewitter" und zeigt unbändige Gewalten, die sich der menschlichen Macht entziehen. Es gibt Mächte, die stärker sind als wir; in Gewitter und Sturm, in Hochwasser und Erdbeben zeigen sie sich bisweilen. Sie entziehen sich der technischen Verfügbarkeit.
Und so mag denn der gütige Freund der Fluren, der mit seiner Hippe durch die Ähren schreitet, auch an die Gestalt des Todes erinnern, der immer mit der Hippe, der Sichel, mit der er die Menschen wie Ähren dahinmäht, dargestellt wurde. Hier hat die Natur den Menschen im Griff: Er stirbt wie alle Lebewesen.
Die andere Seite im Widerspiel von Mensch und Natur bringt Stefan George auch ins Wort. In seinem Dialog- Gedicht „Der Mensch und der Drud" geschieht dies; im Drud gibt er den Kräften der Natur eine Stimme.
Was ist ein Drud? Ich weiß es nicht. Ich schlage im Lexikon nach. Da steht, „die Drude" sei nach altem Glauben ein böser weiblicher Nachtgeist, vor dem es sich zu schützen gilt. Und „der Drud" sei ein guter, schöner, elbischer Geist, der den Menschen hilfreich zur Seite steht. Gegen die böse Drude helfe der Drudenfuß, ein Fünfzack, ein Pentagramm. Wer aber ist der Drud in Stefan Georges Gedicht „Der Mensch und der Drud" aus seinem letzten Gedichtband „Das neue Reich" von 1928, das, lieber Johannes, so gar nichts mit dem Reich zu tun hat, das dann 1933 heraufzog.
Die Gestalt, die der Mensch hier sieht, ist uns wohl bekannt, aber nicht aus der germanischen, sondern aus der griechischen Mythologie: es ist ein Satyr der Beschreibung nach, also eines dieser Wald- und Quellgeister, die menschenähnlich und bocksähnlich zugleich sind. Ein menschlicher Körper, aber mit Bocksohren und Bockshörnern am Kopf und Ziegenfüßen an den Beinen. So kennen wir die Satyrn, die singend und tanzend dem Zug des Dionysos folgen. Ihr Bocksgesang ist schließlich auch der Ursprung der Tragödie, die, wörtlich übersetzt, Bocksgesang heißt und eine kultische Handlung zu Ehren des Dionysos darstellt.
Hier heißt der Satyr zwar Drud, ist aber doch der gute alte Wald- und Wassergeist. Es ist die Kraft, die uns in den Pflanzen und Tieren entgegenkommt, in den sprudelnden Wassern sich regt und im weichen Boden des Waldes.
Ich erinnere mich dieses Spaziergangs mit einem Schulfreund, wir gingen gerne in den Binger Wald oder am Rhein entlang durch die Krippen. So auch diesmal. Wir liefen am Bingerbrücker Bahnhof vorbei, die Landstrasse hinunter, überquerten die Brücke, die über die Bahngeleise hinweg zum Rhein führt auf der Höhe des Mäuseturms. Und dann liefen wir den Rhein entlang, der hier von einer festen Ufermauer begrenzt ist, auf der ein schmaler Weg läuft. Hinter der Mauer auch einige sorgfältig eingerahmte Gewässer, die bei Hochwasser überspült werden. Dann gingen wir zur Landstrasse zurück, um die Kreuzbachklamm hinaufzusteigen. Der Kreuzbach ist ein kleiner Bach, der sich den Berg hinunterschlängelt durch einen schmalen Einschnitt in diesem Ausläufer des Hunsrück. Der Weg windet sich in Kurven hinauf, kleine Brücken führen über den Bach, so dass wir mal links, mal rechts des Wassers hinaufstiegen, bis wir zu der Stelle kamen, an der ein Wasserfall herabstürzt und das Wasser zuvor zu einem kleinen See staut. Hier ruhten wir uns gerne aus. Auf der Bank saß aber schon jemand: ein kleiner Mann mit Bart und Hut, einen schäbigen Rucksack vor sich, aus dem Farnkräuter blickten. Das Männlein kam uns fremd und eigenartig vor. Wir zögerten, er lud uns freundlich ein und wir setzten uns zu ihm. Er sammle Farnkräuter, erzählte er, habe schon wie viele Sorten und sei oft unterwegs, um neue zu sammeln. Er zeigte uns seine Beute. Wir hatten jetzt erst Augen für die Pflanzen. Wir saßen eine Weile, bis er sich verabschiedete und den Weg hinuntertrottete. Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Später bin ich manchmal allein zu dieser Stelle geklettert, dann saß ich lange und schaute auf das Wasser.
Der Drud verkörpert die Kraft, von der wir leben, und die wir doch zerstören, wenn wir die natürlichenLebenszusammenhänge durch unsere künstliche Welt ersetzen und diese Gestalten vertreiben: Damit verlieren wir unsere Lebensgrundlage. Der Mensch wehrt sich in diesem Zwiegespräch natürlich gegen die Vorwürfe des Drud. Er berichtet von seinen
großartigen Erfolgen, vonfruchtbaren Rodungen und wogenden Feldern von blühenden Städten und hohen Häusern, aber auch von gepflegten Forsten und zahlreichem Getier.
Und er warnt den Menschen davor, das Band zu zerreißen, das ihn „mit Tier und Scholle" verbindet. Der Mensch wird wütend: „Bald ist kein raum mehr für dein zuchtlos spiel."
Dieses Lehrgedicht von Stefan George, das so klar seine Ansicht ausspricht, bedarf der Deutung nicht, Und doch kann man dieses Gedicht auch auf das Verhältnis des Menschen zu seiner eigenen Natur, also zu sich Selbst anwenden. Auch hier lebt der Mensch aus dem selbsttätigen Organismus seines Wesens, den er stützen und unterstützen, aber auch schädigen und beschädigen kann. Er lebt nicht aus seiner Absicht allein und seinem Willen, sondern aus dem, was sich unabsichtlich und unwillentlich in ihm entfaltet und bewegt.